Beispiel 1: Die „richtige“ Schulform für Hakan

AdobeStock 108109418 scaledMit Hakans Schwester Elif ging alles einfach: Sie ging gern zur Schule und brachte aus der Grundschule prima Zeugnisse mit. Die Klassenlehrerin sprach ihr deshalb eine Gymnasialempfehlung aus – keine Überraschung. Aber bei Hakan ist es anders: Er zeigt viele praktische Begabungen, kann zum Beispiel Fahrräder reparieren. Ansonsten ist er zwar kein schlechter Schüler, seine Schulnoten fallen aber eher mittelmäßig aus. Und Rechnen fällt ihm schwer. Ebenso die Ausdauer beim Erledigen von Hausaufgaben. Er braucht einfach mehr Zeit und gute Erklärungen, dann erzielt auch er gute Ergebnisse.

„Wir müssen nach der Grundschule nun ganz überlegt die richtige Schulform für Hakan auswählen“, sagt sein Vater. Die Klassenlehrerin der Grundschule meint: „Bei Sprachen ist Hakan kreativ und stark. Oft fehlt ihm jedoch die Konzentration, deshalb dauert es beim Rechnen länger. Aber was heißt das schon im vierten Schuljahr? Wenn Sie mich fragen: Versuchen Sie es mit der Realschule! Zum Gymnasium? Nun, da könnte er eventuell später noch hin wechseln.“ Hakans Mutter ist völlig irritiert: „Es mit der Realschule versuchen? Ist denn mein Kind ein Versuchskaninchen? Vielleicht sollte er doch lieber gleich zum Gymnasium gehen? Bloß nicht zur Hauptschule…“

Die Freundin von Hakans Mutter sagt: „Wir waren erst auch unsicher. Da gibt es eine super Lösung: die Gesamtschule. Alle Schullaufbahnen und Abschlüsse in einer Schule. Bei besonders guten Leistungen können sich die Kinder dort nach oben entwickeln und ihr Abitur machen – oder bei weniger guten Ergebnissen auch ohne Schulwechsel bleiben. Die Kinder werden entsprechend ihrer Lernpotenziale gefördert und gefordert.“ „Aber was ist, wenn Hakan als Spätentwickler doch noch aufdreht und das Abitur machen könnte?“, wirft Hakans Mutter ein. „Ja, dann“, sagt die Freundin, „kann er nach Klasse 10 in der Gesamtschule die gymnasiale Oberstufe besuchen, ohne zu wechseln, und Abi machen.“ „Ist das kein Billig-Abitur?“, fragt Hakans Mutter. „Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt?“, sagt die Freundin. „Die Gesamtschule hat dieselben Regularien und am Ende gibt es wie im Gymnasium das Zentralabitur, mit den gleichen Aufgaben in den Fächern für alle Prüflinge.“ „Ja, dann ist für mich alles klar“, freut sich Hakans Mutter.

Beispiel 2: Frederik kann auf der Schule bleiben

AdobeStock 234476395 scaledFrederik wird umgestuft. Er besucht im 8. Jahrgang die Gesamtschule. In Mathematik konnte Frederik vom Grundkurs in den Erweiterungskurs wechseln, denn er hat sich deutlich verbessert. In Deutsch muss er allerdings vom Erweiterungskurs in den Grundkurs wechseln, weil seine Leistungen spürbar abgefallen sind. In Gesamtschulen kann man in einem Fach wegen guter Leistungen als Fortgeschrittener im Erweiterungskurs sein, in einem anderen Fach wegen schwächerer Leistungen nur im Grundkurs, wo dann Grundlegendes gelernt wird. Man kann später auch wieder zurück wechseln, muss aber nie die Schule verlassen. Die Gesamtschule wird den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht, da sie die einzelnen Kinder entsprechend ihrer Lernpotenziale in den Fächern fördert.

Frederiks Schwester Eva ist ein Jahr jünger und wechselte vor zwei Jahren von der Grundschule ins Gymnasium, weil sie in Klasse 4 recht gute Noten hatte. Eva geht es nun aber gar nicht gut. Denn sie hatte im Gymnasium in Mathematik und Physik eine Fünf und sollte das Schuljahr 7 wiederholen. Dann wurde ihr nahegelegt, ohne Wiederholung doch besser auf die Realschule zu wechseln. „Nach unten“, wie sie sagt. Abstieg in die niedrigere Schulform. Dort sitzt sie nun in Jahrgang 7 und kommt in Mathematik und Physik einigermaßen mit, langweilt sich aber in den anderen Fächern. Denn Eva ist eine gute Schülerin, hatte jedoch eben in zwei Fächern einen „Durchhänger“. Bei Frederiks Freund Olli, der eine Realschule besucht, sieht es noch düsterer aus: Er muss wegen schlechter Noten von der Realschule nach unten in die Hauptschule wechseln.   

„Da hättet ihr besser wie ich auch die Gesamtschule besucht“, sagt Frederik traurig. „Außerdem hatten wir drei doch in der Grundschule fast die gleichen Noten“. „Ja“, sagt Eva, „eigentlich haben wir doch ähnliche Fähigkeiten, wir unterscheiden uns nur in wenigen Fächern“. Erfolg und Versagen liegen offenbar eng beieinander – von Fach zu Fach unterschiedlich. Im traditionellen Schulsystem muss man je nach Leistungsstand in die vermeintlich „richtige“ Schulform passen oder wechseln, auch wenn sich in Wirklichkeit die Schulfähigkeiten viel differenzierter darstellen.